Der Artikel „INTERVIEW MIT REGINA BLOCK – Es gibt auch einige Kinder im Gymnasium, die in der 5. Klasse noch nicht flüssig lesen können“ erschien in der EN-Aktuell 02/24. In der Zeitschrift ist nur ein gekürzter Teil des Interviews zu lesen. Das komplette Interview finden Sie hier – zum Anschauen, Anhören oder Lesen.
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Es gibt auch einige Kinder im Gymnasium, die in der 5. Klasse noch nicht flüssig lesen können
Diesmal haben wir mit der stellvertretenden Vorsitzenden des Vereins MENTOR – DIE LESELERNHELFER GEVELSBERG gesprochen. Eine engagierte Frau, die sich mit viel Herzblut in einem wichtigen und unterstützenswerten Verein einbringt, der wahrscheinlich nie so sehr gebraucht wurde, wie es derzeit der Fall ist.
Ein Interview von Firat Demirhan
Hallo Frau Block, vielen lieben Dank, dass sie sich Zeit genommen haben. Sie sind stellvertretende Vorsitzende des Vereins „MENTOR – Die Leselernhelfer Gevelsberg“ und wir wollen heute über ein Thema sprechen, das mich auch als Vater natürlich sehr interessiert. Laut aktuellen Zahlen können 25 Prozent der Viertklässler weder flüssig noch sinnentnehmend lesen. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: jedes vierte Kind, das die Grundschule verlässt, kann nicht richtig lesen.
Das ist so, ich kann das aus Erfahrung sagen. Ich bin Mentorin an der Hauptschule hier in Gevelsberg. Das heißt, wir haben die Kinder ab Klasse 5 und stellen fest, wie groß das Defizit eigentlich ist.
Sie sind in vielen Städten Deutschlands vertreten. Wie sieht die Unterstützung für diese Kinder grundsätzlich bei Ihnen aus?
Wir sind erst mal an allen Gevelsberger Schulen vertreten. Das heißt, wir haben vor etlichen Jahren überlegt, nicht nur die Grundschulen zu betreuen, sondern auch weiterführenden Schulen zu besuchen, weil wir festgestellt haben, dass diese Leseschwäche weiterführend ist. Uns kam als nächstes die Ferdinand-Hasenclever-Förderschule hier in Gevelsberg in den Sinn und haben dafür auch gleich eine Menge Mentoren gefunden. Teilweise waren es sogar Mentoren aus der Grundschule, die mit ihrem Kind gewechselt haben. Dann haben wir die Hauptschule dazu genommen. Die Realschule hat, nach einem Schulleiterwechsel, sich erst mal rausgehalten. Aber ich werde in diesem Jahr wieder den Anlauf machen und auch die Realschule mit reinnehmen. Und wir haben auch das Gymnasium in Gevelsberg, so erstaunlich wie das Ganze ist. Zwar in allererster Linie, um Kinder und Jugendliche zu betreuen, die zum Beispiel aus der Ukraine kommen, die große Sprachschwierigkeiten haben. Da haben wir so eine kleine Sonderstellung, aber ich habe im letzten Schuljahr auch ein Gespräch mit der stellvertretenden Schulleiterin gehabt und es kam dabei auch heraus, dass auch Gymnasialkinder in der Klasse 5 nicht flüssig lesen können. Wir haben dann überlegt, auch Mentoren zum Gymnasium zu schicken. Das ist erstaunlich und man will es vielleicht auch nicht gerne wahrhaben, aber es ist so.
Diese Mentoren engagieren sich ehrenamtlich bei ihrem Verein. Wie sieht die Unterstützung hierbei aus?
Ich bin die Mentoren-Betreuerin, das heißt, ich kümmere mich um alle 175 Mentoren, die wir zurzeit haben. Das sind nicht alles aktive. Wir unterscheiden zwischen aktiven und fördernden Mentoren, beziehungsweise zahlenden, die also Mitgliedsbeiträge zahlen. Ich akquiriere die neuen Mentoren, führe Gespräche durch und mache als allererstes hier vor Ort eine Mentoren-Schulung. Dann haben die Mentoren natürlich die Möglichkeit Fragen zu stellen und sich eine Schule zu wünschen. An jeder Schule befindet sich ein sogenannter Koordinator oder eine Koordinatorin. Das bedeutet, an den Schulen sind die Koordinatoren meine Ansprechpartner, denen weise ich neue Mentoren zu und die kümmern sich in Absprache mit der Schule darum, dass geeignete Lesekinder gefunden werden. All das geschieht in Absprache mit der Schulleitung und den Klassenlehrern.
Kann man sagen, wer diese Mentoren sind? Sind das Mütter und Väter, sind das Rentner? Welche Menschen bieten ihre Hilfe an?
In allererster Linie sind es Rentner. Erfreulicherweise möchte ich erwähnen, dass in den vergangenen zwei Jahren, seitdem ich intensiv diese Mentoren-Betreuung mache, auch sehr viel mehr Jüngere dazu gekommen sind, also auch noch Berufstätige. Männer haben wir selbstverständlich auch im Verein. Und ganz erfreulich, das wird dann meine Aufgabe in diesem Jahr sein: es gibt Betriebe, die bereit sind Mitarbeiter abzustellen und diese für eine Stunde pro Woche zu uns zu schicken. Ich habe gerade zwei Herren. Einer arbeitet bei der der Demag in Wetter, macht Homeoffice und wird einmal pro Woche freigestellt. Und ein neuer Mitarbeiter von der Buchhandlung Appelt, der ebenfalls freigestellt wird, um ein Lesekind zu betreuen. Das ist meine Idee, an die Betriebe hier zu gehen, weil ja immer mehr Leute Homeoffice machen. Und auch darüber hinaus , generell das Interesse bei Jüngeren zu wecken, denn unser Durchschnittsalter ist 68 Jahre und natürlich scheiden da auch wieder Mentoren aus und es kommen neue hinzu. Der größte Teil der Mentoren ist im Rentenalter und macht das ehrenamtlich und sehr gerne, werden aber über kurz oder lang ausscheiden.
Kommen wir zu einer zentralen Frage: Was ist Ihrer Meinung nach der Grund, warum sich die Lesekompetenz von den Grundschülern in den letzten Jahren so verschlechtert hat, Frau Block?
Das ist einmal, dass die Schule immer noch als Versuchsfeld gesehen wird. Man hat gerade in den Grundschulen sehr viele Sachen ausprobiert, wie man den Kindern den Unterrichtsstoff überhaupt beibringen kann. Und da sind so Sachen bei rausgekommen wie „Schreiben nach Hören“. Wenn ich aber so etwas mache und die Kinder gewöhnen sich an solche Sachen, dann kriege ich diese Dinge einfach nicht mehr raus. Da wäre erst mal, dass sie die Fantasie für Wortbilder nicht mehr entwickeln können. Zum zweiten ist es natürlich so, dass der Einfluss von Außen, der Medien etc. eine riesengroße Rolle spielt. Das heißt, die Kinder werden überfrachtet mit Eindrücken. Das müssen sie auch erst mal verarbeiten und dann bleibt ihnen zum Teil gar keine Zeit mehr, selber Initiative zu entwickeln und zu einem Buch zu greifen oder überhaupt irgendetwas zu lesen.
Dann fehlt dazu natürlich auch ein bisschen der Anreiz von zu Hause. Ich selber kenne es natürlich noch mit Vorlesen, da fing das ganze Spielchen an. Dann komme ich natürlich aus einer Generation, in der es in der Kindheit keinen Fernseher gab, das heißt, als ich lesen konnte, wurde ich in der Stadtbücherei angemeldet. Ich bin seit der Zeit Mitglied und lese, lese, lese. Mit Lesen bin ich einfach groß geworden, es war ein Zeitvertreib. Und heute wird immer mehr geboten. Eltern sind unglaublich eingespannt. Wir haben nicht mehr dieses System „Vater, Mutter, Kind, einer bleibt zu Hause, kümmert sich um das Kind“. Geht auch gar nicht mehr, ist auch nicht mehr zeitgemäß.
Die Zeit, mit dem Kind auch zu lesen oder das Kind da hinzubringen, die wird einfach immer geringer. Und dann die Medien. Man fängt zum Beispiel jetzt auch in Dänemark wieder an, von den digitalen Medien wieder ein bisschen zurückzugehen und zum Buch, Heft und Stift wieder zurückzugehen. Wir müssen manche Dinge wieder einfach zurückschrauben. Aber ich würde nicht von einer guten alten Zeit sprechen, um Gottes Willen.
Ich verstehe. Und die Kritik an der Schulpolitik, die höre ich raus. Wo glauben Sie, liegen die Probleme? Zu große Klassen? Schlechte Schulen? Die Zunahme an Kindern, die schlecht oder kein Deutsch sprechen?
Die Gründe sind ganz vielfältig! Ich komme aus dem Schulwesen, ich komme aus dem Hauptschulbereich. Ich habe 40 Jahre als Hauptschullehrerin gearbeitet und musste immer nach einem Jahrgang, den ich abgegeben habe, also nach sechs Jahren, feststellen, dass der neue Jahrgang wieder schlechter war. Da spielen zu große Klassen natürlich eine riesengroße Rolle, zu wenig Förderung, zu wenig individuelle Förderung. Natürlich spielen auch die Kinder eine Rolle, die mit Migrationshintergrund in die Klassen kommen. Wobei ich da gleich einlenken muss: die Kinder lernen unglaublich schnell Deutsch. Wenn man sie anders fördern könnte und fördern würde, wäre die Integration gar nicht so schwierig! Wirklich, sie lernen spielerisch, aber man muss sich einfach um sie kümmern. Es sieht aber in der Regel so aus, dass die Kinder den Klassen zugeordnet werden, nach dem Motto „Ihr Lehrer, jetzt macht mal!“. Also da werden die Lehrer ein riesengroßes Stück alleine gelassen. Wir kriegen manchmal Hilfsmittel an die Hand, klar, aber es fehlt die Zeit.
Wie sähe die beste Förderung dann aus? Ich höre heraus, das ist mit Personal verbunden, denn eine Förderung, bestenfalls individuell, geht eigentlich nur mit Manpower.
Ja klar, aber das wäre jetzt ein riesengroßes Thema. Ich kann das nur dahingehend sagen: Bildungspolitik müsste Bundespolitik sein und keine Länderpolitik. Das heißt also, wenn ich vom Föderalismus her etliches abschaffen würde, hätte ich die Möglichkeit, über Ressourcen zu verfügen, sei es Finanzen, sei es Personen, und die dann ganz anders aufzustellen. Allein die ganze Verwaltungsarbeit in den Schulen, das ganze Verschriftlichen und alles was dazu kommt, das hat so immens zugenommen, dass wirklich die Zeit zum Unterrichten nicht mehr bleibt. Und das Unterrichten ist wirklich das enorm Wichtige.
Wir sehen es als Mentor. Wenn wir ein Kind haben und wenn dieses Kind Vertrauen gefasst hat. Diese Tatsache, dass sich jemand um ein Kind kümmert, das ist unglaublich, was daraus für Freundschaften entstehen, was daraus für ein Vertrauen entsteht! Das zeigt mir ganz deutlich, ich muss wirklich mehr Zeit für die einzelnen Kinder haben und das geht auch nur über kleine Klassen.
Mit den ganzen Einflüssen kann ich heute im Grunde genommen keine Klasse mehr als 20 Kinder, noch besser wären 15 Kinder betreuen. Nur dann bin ich in der Lage, den Kindern auch gerecht zu werden, Schwächeren gerecht zu werden, die fallen ja ganz hinten runter.
Können Sie aus Ihrem persönlichen Bereich berichten, Frau Block? Was bringt Ihnen diese Förderung und welchen Effekt sehen Sie unmittelbar dann bei den Kindern, denen Sie helfen?
Also für mich persönlich, ich halte den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen. Ich lerne von ihnen. Den Umgang mit Medien. Ich bin in die Medien reingewachsen, kann einiges, kann aber längst nicht alles und bin immer wieder fasziniert, wenn ich von den Kindern dann auch lerne. Das finde ich toll!
Ich lerne auch ihre Sichtweise auf die Welt. Meine ist ja eine ganz andere als es zum Beispiel bei einem Kind ist. Ich kann mich ganz konkret daran erinnern, an meine letzte Schülerin in der Schule, eine sehr schüchterne junge Dame. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis wir uns, ich sag jetzt mal auf freundschaftlicher Weise angenähert haben. Das Größte für mich war, dass sie dann irgendwann im Laufe dieses Jahres anfing, nach einem Buch zu fragen. Wir fangen nicht sofort mit Büchern an, sondern wir haben einen Fundus in den Schulen.Dort hat sie sich etwas ausgesucht. Dann haben wir es geschafft, dieses Buch zu lesen, gemeinsam während unserer Stunde. Und als wir fertig waren kam dann der Satz: „Kann ich mir noch eins aussuchen?“.
Das war für mich das Größte! Jetzt weiß ich, sie wird Bücher mögen. Ein Buch ist kein Fremdwort mehr, wenn sie etwas interessiert. Und sie hatte ein Interesse. Wir haben „Die Schule der magischen Tiere“ gelesen, weil sie den Film schon gesehen hat, aber das Buch eben noch nicht kannte. Das ist für einen Mentor das Größte, wenn wir es wirklich schaffen, das Interesse bei Kindern zu wecken. lesen zu wollen und das nicht als Strafe oder als Bedrohung oder sonst was angesehen wird.
Lesen lernen sollte man im Idealfall ja nicht nur in der Schule. Ist es denn nicht mehr üblich, den Kindern vor dem zu Bett bringen eine Geschichte aus dem Buch vorzulesen oder mit den Kindern gemeinsam ein Buch zu lesen?
Nein, es ist nicht mehr üblich. Das gibt es natürlich noch, klar. Und es gibt auch noch Großeltern, die das für sich auch sehr gerne in Anspruch nehmen. Das sind auch ein Großteil unserer Mentoren, die kommen nämlich aus dieser Intention heraus. Ich habe Enkelkinder, und denen lese ich auch vor, wenn die bei mir sind. Das ist diese Intention, die sie haben. Aber das ist, ich hatte es ja schon gesagt, in den Familien unheimlich schwierig, das alles miteinander zu kombinieren. Ich habe einerseits Verständnis,. Auf der anderen Seite, muss ich mir die Zeit nehmen, das ist einfach wichtig. Wenn ich mir überlege, meine Mutter hatte sicherlich keine Zeit in einem großen Haushalt, aber sie hat sich immer die Zeit genommen. Ich kenne es über das Vorlesen zu Büchern zu kommen, weil es ja auch die Fantasie anregt. Stichwort Kopfkino. Wie viel Phantasie entwickle ich denn, wenn ich lesen kann und ich die Wörter kenne? Wenn ich mir vorstelle, wie sehen die Personen aus, wie bewegen die sich, wie gehen die miteinander um? Und für mich ist das der beste Beweis: wenn ich nach vielen Jahren ein Buch wieder in die Hand nehme, was ich irgendwann mal gelesen habe, dann weiß ich nach den ersten Seiten, das hast du schon gelesen, das kennst du! Aber du kennst nicht mehr den ganzen Zusammenhang, also lese ich es noch mal. Und dann tauchen wirklich wieder diese Bilder, so wie ich mir das in dem Buch vorgestellt habe, tauchen in meinem Kopf auf! Und das ist das, was auch für die Fantasie unglaublich wichtig ist, überhaupt für die gesamte Entwicklung.
Frau Block, ist das gerade deshalb auch bei Kindern so interessant zu beobachten, dass Kinder einige Bücher, einige Geschichten immer wieder hören möchten?
Ja, weil sie sich damit identifizieren. Sie mögen die Person, die Figuren. Diese haben besondere Fähigkeiten, die finden sie toll oder werden von der Beschreibung her vielleicht so geschrieben, dass sie sie toll finden, da identifizieren sich die Kinder sehr gerne mit.
Wir haben jetzt mehrfach das Thema des digitalen Zeitalters angesprochen. Bieten digitale Medien Chancen zur Leseförderung? Oder halten Sie gedruckte Bücher für den besten Weg bei Kindern die Freude zu Lesen zu erwecken?
Also es ist es ist beides. Erst mal können wir es nicht ignorieren, das digitale Zeitalter ist da und das will ich auch überhaupt nicht ignorieren. Aber ich sage mal, wenn ich Bücher lesen kann, dann kann ich auch mit dem ganzen digitalen Bereich umgehen. Ich selber lese viel, auch eBooks, habe also nicht nur das feste Buch in der Hand, sondern eben auch eBooks. Wenn ich in den Urlaub fahre, brauche ich keine zehn Bücher mehr einzupacken. Das erleichtert mir die ganze Geschichte, aber es ändert nicht sehr viel daran.
Ich habe aber auch das feste Buch, Zeitung und Zeitschriften zu Hause. Ich habe auch schon mal einzelne Artikel digital, die kann ich mir mal eben schnell über das Tablet herunterladen und kann sie mir dann noch mal in Ruhe durchlesen. Trotzdem möchte ich weder auf die Zeitung noch auf irgendwelche Zeitschriften verzichten.
Würden Sie zustimmen, dass gerade das Grundschulalter ein sehr sensibler oder wichtiger Bereich ist für Kinder, um lesen zu lernen?
Ja, auf jeden Fall.
Welche Tipps haben Sie für die Grundschuleltern?
Für die Grundschuleltern habe ich die Tipps: vorlesen, vorlesen, vorlesen. Und mit den Kindern über das Gelesene sprechen. Das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt, weil Kinder auch nicht alles verstehen. Ich muss als Elternteil vielleicht so sensibel sein, festzustellen, ob das Kind irgendetwas nicht verstanden hat. Ich erkläre es aber oder wir reden darüber. Ein Buch ist nicht nur dieses Vorlesen, man erlebt etwas Schönes und hat auch einen Gesprächsanlass. Und dieses gemeinsame Sprechen erweitert den Wortschatz, erweitert natürlich auch die Sichtweise und Kinder fragen dann auch viel mehr.
Ich weiß nicht wie wie viel Ihre Kinder fragen, ich weiß, ich konnte meine Eltern nerven ohne Ende! Bis es dann irgendwann mal hieß „Jetzt warte doch mal!“ Und: „Ja, ich erklär es dir, aber ich hab jetzt keine Zeit.“. Unsere Kinder verlernen das Nachfragen, sie verlernen das Verstehen. Wir merken das ganz oft, wenn wir Texte haben, die ein Kind lesen kann, das ist gar nicht das Problem, sie aber nicht versteht. Und das ist etwas, wo ich einhaken muss. Ich muss Dinge auch verstehen lernen und muss es auch erklären können. Und das bedeutet, ich muss Zeit haben. Ich brauche Zeit, das ist einfach so.
Wenn man sich die Zeit nehmen würde, Frau Block, oder wenn man sich die Zeit nimmt, was müsste ich als Elternteil bei der Auswahl der Bücher beachten?
Das Kind mitnehmen. Ich muss erst mal keine Bücher kaufen, sondern ich geh in die Stadtbücherei. Wir haben das Glück, unsere Stadtbücherei hat ein Team, das so was von super gut aufgestellt ist. Das fängt im Kindergartenalter an, das heißt also, es gibt viele Materialien, die für Kindergartenkinder schon geeignet sind. Aber ich nehme mein Kind mit. Wir haben ja nicht nur den Standort Gevelsberg Mentor Schule, sondern, ich weiß nicht, ob Ihnen das bekannt ist, wir haben auch den Standort Stadtbücherei Flüchtlingsbetreuung. Damit haben wir 2015 angefangen und dann kamen natürlich Geflüchtete mit ihren ganz, ganz kleinen Kindern, die gerade noch im Babyalter waren oder gerade laufen lernten. Diese Kinder haben wir in unsere Kinderbuchabteilung mit Mentoren geschickt oder mit einer jungen Dame aus der Bücherei, die sich dann darum gekümmert hat. Da haben sie angefangen, sich die Bilderbücher anzugucken. Und da wurde mit ihnen über diese Bilderbücher gesprochen.
Das heißt aber immer, ich gucke gemeinsam mit dem Kind was an, ich spreche darüber. Und das kann ich einfach machen, indem ich die Kinder mitnehme und sage: „Was interessiert dich?“. Das ist ja auch so einfach mit dem ganzen Fernsehen, mit der ganzen Fernsehgeschichte. Natürlich kann ich mein Kind vor den Fernseher setzen, stell das an, Kindersendung, alles prima. Kann ich alles machen. Aber wenn ich mit dem Kind nicht darüber rede, dann weiß ich doch gar nicht, was hat mein Kind denn überhaupt davon verstanden? Ist es erschrocken? War das gut? War das eine tolle Figur?
Wenn ich es gut meinen würde und weiß, dass mein Grundschulkind schon mal was von Harry Potter gehört hat, sollte ich das Buch dann kaufen?
Bitte nicht!
Ja, darauf wollte ich hinaus. Worauf sollte man bei der Auswahl von Büchern achten?
Von der Optik her zum Beispiel auf eine große Schrift. Ich kann nicht einem Kind ein Buch mit einer Minischrift geben, was dann auch noch über 120 Seiten geht! Das geht gar nicht! Das heißt also, ich brauche am Anfang ein dünnes Buch, ich brauche ein Buch mit ganz vielen Bildern. Vielleicht habe ich sogar ein Buch, das ich ausmalen darf, wo ich die Bilder noch farbig gestalten darf. Zu jedem Bild gibt es einen Text, der in Großbuchstaben ist. Einfache Sprache erst einmal. Ich muss ja nicht gleich mit komplizierter Sprache anfangen, ich fange mit einfacher Sprache an. Dann reicht das doch erst mal.
Zu Harry Potter: ich liebe Harry Potter! Ich habe Harry Potter als erwachsener Mensch gelesen, ich habe jedes Buch verschlungen. Ich hab die ganze Sammlung immer noch zu Hause, aber ich hätte es nie einem Kind in die Hand gedrückt, weil das überfordert völlig! Wir neigen dazu, entweder unsere Kinder zu überfordern, weil wir es gut meinen, weil wir der Meinung sind, lieber ein bisschen mehr, irgendwas wird schon hängen bleiben, oder wir unterfordern die Kinder. Das ist so eine Gratwanderung.
Aber wenn ich mein Kind mitnehme und es greift sich ein einfaches Bilderbuch, ist das doch in Ordnung. Es hat aber schon mal ein Buch in der Hand, es sieht etwas da drin und ich kann mit dem Kind über die Situation sprechen. Also wenn ich an diese ganzen Kinderbilderbücher denke, auch diese ganzen Klassiker, bessere Gesprächsanlässe gibt es doch gar nicht! Die kleine Raupe Nimmersatt oder Kamishibai zum Beispiel. Und da ist die Bücherei zum Beispiel immer der richtige Ort. Die sind so super gut ausgestattet.
Zumal es ja dort die Ansprechpartner gibt, die sich auskennen. Man hat die Lehrer in der Schule, in der Stadtbücherei hat man da die Mitarbeiter. Schule und Bücherei sind Einrichtungen, die liegen ja in städtischer Hand, ihr Verein hingegen nicht, Frau Block. Sie machen das ehrenamtlich, Sie finanzieren sich durch Spenden. Wodurch finanzieren Sie sich Ihre Arbeit noch oder ist das wirklich nur auf Spendenbasis?
Es das auf Spendenbasis. Unser Jahresbeitrag für zahlende Mitglieder ist sehr entscheidend, er beträgt 12€ im Jahr. Also, das hält sich schwer in Grenzen, davon könnten wir nicht leben. Wir leben wirklich von Spenden und wir haben so riesige Gönner hier in Gevelsberg, das ist unglaublich! Sie wissen unsere Arbeit zu schätzen und wir haben dadurch die Möglichkeit, jedem unserer Lesekinder zum Beispiel zweimal im Jahr ein Buch zu schenken. Das ist der „Sommer-Lesespass“ und der „Winter-Lesespass“. Das heißt, wenn wir wissen, was interessiert die Kinder, dann bin ich in der Lage, eben auch ein passendes Buch auszuwählen. Nach einem halben oder nach einem ganzen Jahr weiß ich, wie mein Lesekind tickt.
Auf welche Art und Weise könnte man sie denn noch unterstützen, Frau Block? Dürfte, könnte ich mit meinen Büchern hier vorbeikommen?
Alles, was Sie jetzt hier in unserer Geschäftsstelle sehen, sind tatsächlich alles Sachen, die die Mentoren abgegeben haben, die sie mitgebracht haben. Wir kriegen auch Bücher geschenkt, zum Beispiel von der Buchhandlung Appelt, die gerade umbauen und uns Bücher haben zukommen lassen. Ich bekomme schon mal Bücher aus der Stadtbücherei. Hier in dieser Geschäftsstelle haben die Mentoren also die Möglichkeit, sich zusätzlich noch Material zu besorgen zu dem, was in der Stadt ist. Wir unterstützen unsere Mentoren dahingehend, dass sie auch jede Woche die Kinderzeitung bekommen.
Die Kinderzeitung ist ein ganz tolles Teil, weil sie genau das beinhaltet, was ich sagte: kleine Texte. Ich kann auch wirklich mal nur einen Abschnitt lesen und es ist eine Bebilderung, was Spielerisches dabei. Natürlich wollen die Kinder auch immer noch spielen. Und das kann ich natürlich wunderbar mit dem Lesen verbinden. Wenn ich meine Mentoren-Ausbildung mache, dann kommen die Mentoren hierher und sagen: „Was soll ich denn für Bücher ausleihen oder anschaffen?“. Und dann sage ich immer: „Gar keine!“. Erst einmal das Kind kennenlernen. Wir dürfen alles, wir müssen nichts.
Ich muss auch nicht ein ganzes Buch lesen. Wenn ich aber in kleinen Schritten feststelle, das Kind liest, es versteht auch etwas und ich kann es auch entsprechend loben, dann hab ich schon einen Riesenschritt gemacht. Und wenn ich dann am Ende eines Jahres tatsächlich mal eine Kinderzeitung komplett gelesen habe, ist das doch schon mal okay.
Frau Block, wenn man sich über ihre Arbeit informieren möchte, tut man das auf welchem Wege?
Am besten anrufen und ein persönliches Gespräch vereinbaren, das ist wirklich das Einfachste hier. Wir haben einmal hier die Geschäftsstelle, die ist normalerweise wöchentlich besetzt. Im Augenblick müssen wir das etwas begrenzen. Ich bin aber jede Woche hier und schaue mir natürlich an, ob jemand angerufen hat. Man kann sich das aber auch über die Internetseite anschauen. Wobei, da muss ich im Augenblick eine Einschränkung machen, unser Administrator und unser allerliebster geschätzter Mentor, ist leider vor einigen Wochen verstorben und wir sind gerade dabei, das alles in andere Hände zu geben. Dazu muss die Administration aber erneuert werden.
Sagen wir mal so, unser Internetauftritt ist im Augenblick nicht aktuell, aber wir sind online erreichbar: über info@mentor-gevelsberg.de und wir sind telefonisch erreichbar. Meine Daten stehen auch auf der Website, da kann man dann auch das finden.
Zum Abschluss würde ich gerne mit ihrem Einverständnis eine Fragerunde machen. Ich werfe einige Begriffe in den Raum und Sie sagen mir, was als Ihnen erstes dazu einfällt.
Lieblingsbuch
Jenseits von Afrika von Tania Blixen.
Lieblingskinderbuch
Emil und die Detektive
Kindsein
Spielen dürfen, Zeit haben.
Das deutsche Schulsystem
Eine Katastrophe.
Leselernhelfer
Ohne sie sähe es noch viel schlimmer aus. Ganz viel Begeisterung, ganz viele Emotionen.
Und zum Abschluss: der Ennepe-Ruhr-Kreis.
Macht eine Menge. Ist ein super Kreis. Ein super Zusammenhalt, gegenseitige Unterstützung. Und ja, ich bin zugereist und fühle mich wahnsinnig wohl hier.
Das ist ein schönes Wort zum Abschluss. Frau Block, vielen lieben Dank für die Arbeit, die Sie leisten, für Ihre immens wichtige Arbeit. Ich glaube, dank ihrer Arbeit kommen wir dem Ziel, Kindern lesen beizubringen, wesentlich näher. Ich wünsche Ihnen alles Gute für ihre Arbeit und danke Ihnen vielmals, dass Sie sich die Zeit genommen haben für das Interview.
Sehr gern.
MENTOR – Die Leselernhelfer Gevelsberg e.V.
Hagenerstr. 5, 58285 Gevelsberg
Tel.: 02332/843 86 00
info@mentor-gevelsberg.de
Spenden:
Bankname: Stadtsparkasse Gevelsberg
IBAN: DE87 4545 0050 0000 0152 22
BIC: WELADED1GEV
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