Im Dorf beginnt nun das für viele Einheimische größte und wichtigste Fest. Nach zwei Jahren Zwangspause wird traditionell am ersten Sonntag im September wieder der große Festzug der Nachbarschaften unter dem Motto „Vi loat us nich unnerkreegen“ durch Schwelms Straßen ziehen. Ein schönes und mutmachendes Motto eigentlich, denkt Schwelmann bei seinem Rundgang durchs Dorf. Drückt es doch den Willen aus, sich nicht von den Widrigkeiten des Lebens unterkriegen zu lassen und wieder durchzustarten. Schwelmann denkt ein Jahr zurück, als es Unruhen in den Nachbarschaften und im ganzen Land gab. Geimpft oder Ungeimpft war die Frage, Freund oder Feind. Jetzt, ein paar Monate und einen heißen Sommer später, ist das Thema nahezu vollständig aus dem Alltag verschwunden. Auch in Schwelmanns liebeswertem Heimatdorf. Jetzt ist der unsägliche Krieg in der Ukraine in aller Munde, die steigenden Preise und der kommende Winter, der mit schwindelerregenden Energiekosten einer der schwersten Winter seit langer Zeit werden könnte. Vielleicht, denkt Schwelmann, ist die Stimmung deshalb auch hier im Dorf verhalten. Auch bei den aktiven Gestaltern unseres Heimatfestes. Zwei von den dreizehn Schwelmer Nachbarschaften sind beim Festzug gar nicht dabei. Bei einigen anderen werden die Zugbeiträge eher mit angezogener Handbremse gebaut. „Zu wenig Leute“, „Knappe Finanzen“ sind Argumente, die Schwelmann immer wieder hört. Nun denn, sei es, wie es ist: „Vi loat us nicht unnerkriegen!“.
In diesem Jahr hat sich einiges getan im Dorf. Schwelms „neue Mitte“ entwickelt sich. Das Kulturhaus auf dem Wilhelmsplatz steht, das neue Rathaus auf dem Gelände der ehemaligen Brauerei hat sein Richtfest hinter sich. Rein optisch scheiden sich an beiden Gebäuden die Geister. Bei seinem Weg den Neumarkt hoch, vorbei am Rathausbau, muss Schwelmann irgendwie an eine Schlucht denken. Es wirkt ein wenig bedrückend, so groß und mächtig steht der neue Verwaltungskomplex gegenüber den zum Teil über hundert Jahren alten Häusern des Neumarktes. Vor Jahren schon, in der Phase der Entscheidung und Planung, gab es kritische Stimmen zu den wahrscheinlichen Kosten dieses Großprojektes. Damals wurde schon erwartet, dass die veranschlagten Kosten deutlich übertroffen werden würden, was von den Befürwortern natürlich vehement bestritten wurde. Inzwischen bewahrheiten sich die schlimmen Befürchtung. Längst wird offiziell bestätigt, dass die Kosten gestiegen sind und noch weiter steigen können. Ein paar Hundertausende hier, ein paar Milliönchen dort. Und Schwelmann denkt wie so oft: Wir haben’s ja!?! Wenn wir’s jetzt nicht hätten…Kurzfristig gab es wohl auch noch eine Diskussion um das denkmalgeschützte Kesselhaus, in das, ursprünglichen Gedankenspielen zufolge, eine gehobene Gastronomie Einzug halten sollte. Angesichts der Kosten, auch der laufenden, für den oder die künftigen Betreiber hat sich Schwelmann damals schon gefragt: Wer bitte soll den Laden übernehmen? Wo sollen die vielen Gäste herkommen, die für einen wirtschaftlichen Betrieb notwendig wären? Hunderttausend. Millionen. Eigentlich Peanuts, im Vergleich zu den Milliarden die unsere Staatslenker an anderen Stellen rauswerfen. Längst haben sie die gemeinen Bürger an zwei- oder gar dreistellige Milliardenzahlen gewöhnt. Und Schwelmann denkt: viele haben kaum eine Vorstellung davon, wie viel eine Milliarde ist. Eintausend Millionen, versucht Schwelmann in Gesprächen ab und zu diese Zahl begreifbar zu machen. Wie hoch sie auch sein mögen, wir alle werden uns noch mit Zahlen beschäftigen müssen. Zahlen und zahlen. Nämlich die Kosten für eine warme und helle Wohnung in Herbst und Winter. Für ein wärmendes und entspannendes Bad. Für die Fahrt zur Arbeit. Für Essen und Trinken. Es wird bald Millionen von Menschen geben, die sich das nicht mehr werden leisten können. Die Inflationsrate geht auf 10% zu. So hoch, wie seit siebzig Jahren nicht mehr. Schwelmann, sonst immer Optimist, macht sich auch um sein Leben Gedanken. Überhaupt Gedanken. Die kreisen angesichts der vielen Probleme wirr durcheinander in Schwelmanns Kopf. Corona, Lauterbach, Putin, Krieg, Ukraine, Flüchlinge, Gas, Strom, Benzin, Inflation, Gendern, Winnetou… Und Schwelmann wundert sich ob der Gelassenheit vieler seiner Mitmenschen. Vieles wird verdrängt, nicht wirklich wahrgenommen. Das wird sich bald ändern, fürchtet der Schwelmann. Und hofft zugleich, dass die vor uns liegende dunkle Jahreszeit doch nicht so dunkel wird, wie befürchtet.
Vielleicht sitzt irgendwo in der Führungsetage doch noch jemand, dem ein Licht aufgeht und alles zum Guten wendet. Möge uns Schwelmern und all den Gästen das Heimatfest noch einen schönen Sommerabschluss bescheren. Und nicht vergessen: Vi loat us nich unnerkreegen!
Euer Schwelmann